ETTRINGEN. -edb- Der Rückzug vom Rückzug: Ex-Tennisprofi Thomas Muster, die ehemaligen Skirennläufer Hermann Maier und Annemarie Moser-Pröll hatten es getan, nun auch Rennradfahrerin Kerstin Brachtendorf. Ganz offiziell hatte sie es zwar nie ausgesprochen, aber mit dem Bundestrainer der Paracycling Nationalmannschaft hatte die 46-Jährige bereits über ihren Rückzug aus dem Profisport nachgedacht. Ende des Jahres erklärte sie dann doch: „Ich mache weiter.“

„Willst du tatsächlich Tag für Tag diesen Druck aushalten müssen?“, hatte sie sich immer öfter gefragt und war insgeheim zu dem eindeutigen Schluss gekommen: „Nein!“ Physisch aber war sie gut aufgestellt.

Da ist noch 
jede Menge Potenzial

Denn die mehrfache Deutsche Meisterin im Paracycling-Straßenrennen befand sich in der wohl besten sportlichen Phase ihres Lebens. „Da wäre Schluss machen doch Unsinn gewesen“, meint sie im Gespräch mit unserer Zeitung AM WOCHENENDE. „Nach den Paralympischen Spielen in Rio 2016 hatte ich bereits ans Aufhören gedacht“, erzählt sie rückblickend, „Doch dann ging es erst richtig los. Da war noch jede Menge Potenzial.“

Zwei richtig 
starke Jahre

Die Erfolge der gebürtigen Ettringerin, für die Italien die zweite Heimat geworden ist, können sich auch für die letzten beiden Jahre sehen lassen: 2017 wurde sie zum zweiten Mal Weltmeisterin im Straßenrennen und Dritte im Einzelzeitfahren. 2018 verpasste sie mit zwei vierten Plätzen eine WM-Medaille nur knapp, sicherte sich aber erneut den Titel der Deutschen Meisterin im Paracycling. Außerdem holte sie beim Welt-Cup in Südafrika Silber und in Ostende zweimal Bronze. Mit Platz 5 und 7 hatte sie 2018 außerdem ihre besten Bundesliga-Ergebnisse eingefahren. „Auch wenn ich ohne WM-Medaille die Saison beendet habe, war es eines meiner besten Jahre im Radsport. Für mich als Radsportlerin zählt die Leistung und nicht nur das Ergebnis“, sagt sie.

Kerstin Brachtendorf

Bei Kaffee, einer guten Wochenzeitung und mit treuen vierbeinigen Freunden an der Seite: So könnte die Zukunft ohne Radsport aussehen. „Und ich werde mir irgendwann den Traum vom eigenen Café erfüllen“, ist sich Kerstin Brachtendorf sicher. Foto: Billigmann

 

Ein Café, ein Hund und ganz viel Ruhe

Dass sie dennoch aufhören wollte, hatte rein psychologisch motivierte Gründe. „Die Angst vor dem enormen Leistungsdruck und das Gefühl, im Leben nicht richtig angekommen zu sein, das war es, was mir so zugesetzt hat“, sinniert die 46-Jährige, die sich darauf freut, nach dem Radsport das Leben etwas ruhiger angehen zu lassen. Der Traum vom eigenen Café ist noch lange nicht ausgeträumt. Und auch der vom eigenen Hund nicht. Doch dafür muss sie sesshaft werden.

Tokio 2020 ist 
das große Ziel für Kerstin Brachtendorf

Aber das ist nach ihrer Entscheidung, doch weiterzumachen, für die nächsten zwei Jahre nicht in Sicht. Denn ihr Ziel ist die Teilnahme an den Paralympics in Tokio 2020. „Dann ist aber wirklich Schluss“, lacht sie. Bis dahin muss sie sich ganz schön reinknien, das ohnehin harte und zeitfordernde Training nochmals intensivieren. Ihr Ziel für 2019: eine Medaille im September bei der WM im niederländischen Emmen.

„Meine ersten beiden richtig wichtigen Rennen sind bereits Anfang Mai. Da muss ich schon auf hohem Niveau fahren“, ist sie sich bewusst.

Um die nötige Rennhärte zu entwickeln, fährt Brachtendorf auch Rennen in der Elite-Klasse, wie zum Beispiel Frauen-Bundesliga und Deutsche Meisterschaften. Ihren Trainingsplan hat sich die eigenwillige Sportlerin selbst zusammengestellt, denn: „Der Spaß muss im Vordergrund stehen und das Training muss mir gut tun.“ Deshalb ist Training nach Gefühl und nicht nach starren Regeln ihr Grundprinzip. „Ich schaffe mir auf diese Weise eine kleine Insel, um Glückshormone aufzubauen, damit ich nicht in diesem Leistungsstrudel untergehe“, sagt sie selbstbewusst.

Da verwundert es nicht, dass sie sich auf den Kanaren „winterfest“ macht. Seit vier Jahren verdient sie sich als Guide für Rennradtouristen ein Zubrot. Das mache hart für die Rennen und fürs Training, meint sie und ist stolz darauf, dass sie trotz Arbeit relativ fit aus dem Winter kommt.

Archivfoto: Oliver Kremer/info@pixolli.com