REGION. -thi-/-edb- Der Bundesrat hat Cannabis auf Rezept für Schwerkranke in Deutschland freigegeben. Ärzte dürfen die Droge verschreiben und Erkrankte können sie über ausgewählte Apotheken beziehen. Doch was ist Cannabis nun: Heil- oder Rauschmittel? AM WOCHENENDE hat die Experten in der Region gesprochen und das Thema intensiv beleuchtet.

Vorweg: Cannabis als Rauschmittel bleibt weiterhin in Deutschland verboten! Wer größere Mengen der Droge bei sich trägt, anbaut oder vertreibt, muss strafrechtliche Konsequenzen fürchten.
Auf der anderen Seite wird Cannabis bereits seit Jahren  in der Medizin als Medikament eingesetzt. Einigen Substanzen der Pflanze werden etwa eine krampflösende und schmerzlindernde Wirkung zugeschrieben. Nur wenige Erkrankte nahmen jedoch das medizinische Angebot von Fertigarzneimitteln auf Cannabisbasis in Anspruch, denn für die Kosten mussten sie in der Regel selbst aufkommen. Ähnlich sah es bei Konsumenten aus, die Cannabisblüten für medizinische Zwecke bestellten: Laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) verfügen 1020 Patienten über eine Ausnahmegenehmigung. Sie können sich getrocknete Cannabisblüten bestellen, zerkleinern diese, drehen diese wie eine Zigarette zusammen und inhalieren den Rauch des Joints.
Bislang war dies aber mit hohen Kosten (mehrere hundert Euro pro Monat) für die Patienten verbunden – und die Erlaubnis zum Erwerb von Cannabisprodukten gab es nur in extrem seltenen Fällen.
Das soll nun anders werden: Schwerkranke dürfen unter bestimmten Voraussetzungen Cannabis künftig legal und auf Rezept erwerben. Die Krankenkassen müssen die Therapie mit Cannabisblüten dann bezahlen. Der Anbau zu medizinischen Zwecken soll staatlich geregelt werden, der Eigenanbau durch Patienten bleibt ausdrücklich verboten.
Doch ist Cannabis nun ein verkanntes Heilmittel oder eine gefährliche Droge? Kann der Konsum von Cannabis wirklich helfen und welche Gefahren bestehen beim Konsum der Droge? „Es gibt immer noch relativ wenig Substanzhaltiges über den medizinischen Nutzen der Cannabinoide – kaum aussagekräftige Studien, aber viele positive Patientenberichte“, erklärt Dr. Thomas Klose von der Sonnenschein Apotheke in Koblenz.

Das neue Gesetz sei eine „Bereicherung für seine Arbeit mit bestimmten Patientenkreisen“, erklärt Dr. Achim Betzenberger, Schmerzspezialist in Cochem. Patienten mit einer krankhaften Spastik wie bei Multipler Sklerose, chronischen Schmerzen, schwerer Appetitlosigkeit oder Übelkeit, z. B. nach einer Chemotherapie würden hin und wieder gezielt nach Cannabistherapien fragen. Wenn die Bürokratie sinke, sehe er „durchaus eine Chance in der Behandlung von chronischen Schmerzpatienten oder in der Palliativmedizin.“
Eine entscheidende Einschränkung kommt von Dr. Peter Hotz, Chefarzt der Abteilung Suchtmedizin und Sozialpsychiatrie an der Rhein-Mosel-Fachklinik Andernach. Cannabis an Jugendliche abzugeben sei keine Option: „Das Gehirn wird in der Pubertät komplett umgebaut, die Vernetzungen generalüberholt. Dabei spielen körpereigene Cannabinoide eine Schlüsselrolle.“ Wenn man in dieser Phase Cannabis von außen hinzuführe, „kann sich das ungünstig auswirken im Hinblick auf eine bleibende verminderte Reaktionsfähigkeit sowie eine eingeschränkte Fähigkeit, sich auf mehrere Dinge gleichzeitig konzentrieren zu können (sogenannte geteilte Aufmerksamkeit), was zum Beispiel beim Autofahren wichtig ist“, fügt er hinzu.
Viele Mediziner in der Region haben Medikamente auf Cannabisbasis schon einmal unter ärztlicher Kontrolle  und genauer Patientenselektion verschrieben. So auch Dr. Felix Post, Chefarzt der Inneren Medizin und Kardiologie am Marienhof in Koblenz. An seiner alten Wirkungsstädte in Mainz hat er bei „Patienten gute Erfahrungen“ mit Cannabis gemacht.
Als neues „Allheilmittel“ dürfe Cannabis jedoch in kleinster Weise deklariert werden, sind sich die Mediziner einig. „Es ist sicher kein ‚Allheilmittel‘ und als Schmerzmittel wird es in seiner Kraft oft überschätzt“, gibt Dr. Peter Schermuly, Leiter des Palliativzentrums im St. Vincenz-Krankenhaus in Limburg, zu bedenken. Zugleich schätzt der erfahrene Arzt die Suchtgefahr, die von der Droge ausgeht, als gering ein. „Es ist daher einsetzbar als Reservemedikament“, erklärt der Mediziner.
Eine klare Forderung formuliert Dr. Thomas Klose von der Sonnenschein Apotheke in Koblenz, der sich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt hat. „Wir benötigen dringend aussagekräftige Studien“, so der Apotheker. Bisher basierten die Erfahrungen im Umgang mit medizinischem Cannabis zum Großteil auf einzelnen Patientenberichten (Zusammenfassung des Forschungsstandes, siehe unten). „Große Hoffnungen gibt es vor allem im Bereich der Schmerzlinderung.“ Doch fundierte wissenschaftliche Tatsachen würden bisher fehlen.
Dr. Wolfgang Schlags, Reichskronen Apotheke in Mayen, hofft auf einen verantwortungsvollen Umgang mit der Droge. Bisher habe es noch keine konkreten Anfragen in Bezug auf die Gesetzesänderung bei der Apotheke gegeben. Da Cannabis unter das Betäubungsmittelgesetz falle, werde die Vergabe von Medikamenten in jedem Fall sehr stark kontrolliert und protokolliert. Der Ablauf sei jedoch für die Apotheken nichts neues: Wie auch bei gewissen Morphinen, die ebenfalls unter dieses fallen, wird die Medikamentenvergabe sehr stark kontrolliert. Es findet z. B. eine besondere Dokumentation statt und eine Lagerung im Tresor.

Hier sechs Statements von Ärzten aus der Region

Einfach mit der Maus über die Kacheln fahren.

Dr. Peter Hotz

Chefarzt Abteilung Suchtmedizin, Rhein-Mosel-Fachklinik Andernach

Sein Statement:

„Ich begrüße als Mediziner die Legalisierung von Cannabis als Medikament. Die Suchtgefahr von Cannabis ist im Vergleich zu legalen Substanzen ohne medizinische Wirkung, wie zum Beispiel Tabak und Alkohol, viel geringer. In der Rhein Mosel Fachklinik haben haben wir pro Jahr 1800 Patienten mit Abhängigkeiten, ein Prozent davon wegen Cannabisabhängigkeit. Es muss aber sicher verhindert werden, dass Cannabis an Jugendliche abgegeben wird.“

Dr. Felix Post

Chefarzt Innere Medizin, Marienhof Koblenz

Sein Statement:

„Cannabis kann bei Schmerz- und Angstpatienten, die z. B. an Krebs, Amputationen oder Traumata leiden, angebracht sein. Ich habe in Mainz damit bei Patienten gute Erfahrungen gemacht. Auch hier in Koblenz würde ich es ambulant verschreiben – allerdings nur bei entsprechenden Patienten. Eine Suchtgefahr ist sicherlich vorhanden, diese eher bei chronisch Kranken. Suchtgefahr besteht allerdings auch bei Schmerzmitteln. Bei Morphium ist die Gefahr z. B. noch höher.“

Dr. Annegret Maisant-Gehrke

Internistin mit Praxis in Polch

Ihr Statement:

„Wenn andere Schmerzmittel wie Morphine nicht vertragen werden, dann ist Cannabis auf Rezept eine große Option. Morphine haben viele Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen und Verwirrtheit. Ich sehe das Gesetz positiv. Ganz früher gab es mal Cannabis auf Rezept, aber nur mit Sondergenehmigung. Damit hatte ich sehr gute Erfahrungen gemacht – es war aber für Patienten sehr schwierig, an eine Genehmigung zukommen. Wenn es jetzt einfacher geht, ist das klasse.“

Dr. Wolfgang Schlags

Reichskronen Apotheke in Mayen

Sein Statement:

„Cannabis fällt unter das Betäubungsmittelgesetz. Wie auch bei gewissen Morphinen, die ebenfalls unter dieses fallen, wird die Medikamentenvergabe sehr stark kontrolliert. Es findet z. B. eine besondere Dokumentation statt und eine Lagerung im Tresor. Ein kontrollierter Ablauf, eine kontrollierte Qualität und ein verantwortungsvoller Umgang sind bei solchen Medikamenten sehr wichtig. Wenn sie vom Arzt verordnet werden, dann werden wir auch eine Medikamentenbestellung ausführen.“

Dr. Peter Schermuly

Leiter Palliativzentrum, St. Vincenz-Krankenhaus Limburg

Sein Statement:

„Die Möglichkeit, Cannabis in bestimmten Situationen verordnen zu können, ist zu begrüßen. Es ist aber kein ,Allheilmittel‘ und als Schmerzmittel wird es in seiner Kraft oft überschätzt. Ich habe es bisher im Rahmen der Möglichkeiten bei Tumorpatienten und Patienten mit Multipler Sklerose verschrieben. Unter entsprechender Kontrolle und Patientenselektion schätze ich die Suchtgefahr als gering ein. Es ist daher einsetzbar als Reservemedikament.“

Dr. Thomas Klose

Sonnenschein Apotheke, Koblenz

Sein Statement:

„Die medizinische Forschung zu Cannabis muss intensiviert werden. Es gibt immer noch relativ wenig Substanzhaltiges über den medizinischen Nutzen der Cannabinoide. Es gibt kaum aussagekräftige Studien. Die Annahmen basieren vorwiegend auf klinischer Erfahrung beim Einsatz von Cannabis sowie auf positiven Patientenberichten. Besonders bei Krebserkrankungen ist die Hoffnung groß: Angeblich ließe sich das Tumorwachstum stoppen. Doch ob das wirklich so ist, ist bis dato völlig unklar.

Die Studienlage: Was die Forschung weiß und was nicht

Eine Überblick über den aktuellen Forschungsstand, aufbereitet von Dr. Thomas Klose:

Krebserkrankungen:
Hoffnung auf eine Behandlung mit Cannabis hegen immer wieder Krebserkrankte. Angeblich ließe sich damit das Tumorwachstum stoppen. Doch ob das wirklich so ist, ist unklar. Der Kinderarzt, Prof. Sven Gottschling vom Universitätsklinikum des Saarlandes in Homburg, behandelt Kinder mit sehr schweren Erkrankungen bei Bedarf mit Cannabis-Medikamenten. Bei einem 11-Jährigen, der seit einem Jahr Dronabinol erhält, ist dabei der Hirntumor nicht weiter gewachsen. Ein Einzelbericht. Systematische Forschungen zu Cannabis und Krebs basieren zum Großteil momentan vor allem auf Zellexperimenten in der Petrischale, und diese lassen sich keineswegs einfach auf den Menschen übertragen.

Schmerzlinderung:
Einige gute Studienergebnisse existieren laut einer Metaanalyse für die Wirkung von Cannabis-Medikamenten bei vielerlei Schmerzen. Ähnliches gilt bei Multipler-Sklerose-Spastik und bei Querschnittslähmungen. Die britischen Forscher um Penny F. Whiting von der University Hospitals Bristol NHS Foundation haben Mitte 2015 entsprechende Ergebnisse in der Fachzeitschrift JAMA veröffentlicht. Sie werteten dafür Daten von fast 6500 Teilnehmern aus insgesamt 79 randomisierten Studien zu verschiedenen Krankheiten aus. Das menschliche Gehirn besitzt einen Cannabinoid-Rezeptor, an den THC andocken kann. Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass dieser Rezeptor nötig sein könnte, um Schmerzwahrnehmungen zu löschen.

Tourettesyndrom:
Das Tourettesyndrom mit seinen krankheitstypischen Tics war lediglich Gegenstand u. a. zweier kleiner Studien mit 36 Teilnehmern. Diese hatten berichtet, Cannabis würde ihre Tics mildern.

Appetitlosigkeit und HIV:
Bei Appetitlosigkeit, Schlafstörungen und Atemaussetzern sowie bei HIV bedingten Psychosen soll Hanf helfen. Hier allerdings ergaben die wenigen verfügbaren Studien in der Metaanalyse dazu keine überzeugenden Effekte. Andere Mittel waren einfach besser.

Epilepsie:
Zu Epilepsie, entzündlichen Schmerzsyndromen wie beispielsweise bei Arthritis und Colitis ulcerosa gibt es bislang nur Patientenberichte.

 

Fotos: colourbox.de